Eine Überdiagnose ist die Diagnose einer Erkrankung, die sich ohne eine Untersuchung nie bemerkbar gemacht und keine Beschwerden ausgelöst hätte. Überdiagnosen können schaden, da sie oft psychisch belasten und überflüssige Behandlungen nach sich ziehen.
Eine Krankheit zu haben, bedeutet für die meisten Menschen, sich krank zu fühlen. Man hat spürbare Beschwerden, die manchmal ein Grund sind, zu einer Ärztin oder einem Arzt zu gehen. Im Gespräch und durch Untersuchungen wird dort versucht, die Ursache der Beschwerden zu finden. Das Ergebnis ist eine Diagnose. Sie ist die Voraussetzung für eine passende Behandlung.
Früherkennungsuntersuchungen haben dem Begriff „Krankheit" noch eine zweite Bedeutung gegeben: Untersuchungen wie zum Beispiel die Mammografie zur Früherkennung von Brustkrebs oder der PSA-Test für Prostatakrebs sollen Krankheiten finden, bevor sie Beschwerden verursachen. Eine frühe Diagnose soll die Aussichten auf Heilung verbessern. Bei der Früherkennung wird also nach Krankheiten gesucht, die man noch nicht fühlt, die aber irgendwann ausbrechen würden.
In den letzten Jahrzehnten wird deutlicher, dass durch Früherkennung noch ein weiterer Typ von „Krankheiten“ entdeckt wird: Sie sind von „echten“ Krankheiten nicht zu unterscheiden, würden aber auch ohne eine Behandlung nie ausbrechen.
Krankheiten, die nie ausbrechen? Das ist erst einmal schwer zu verstehen. Auch in der Medizin wächst erst langsam das Bewusstsein, dass es solche Diagnosen tatsächlich gibt. Fachleute nennen die Entdeckung einer Krankheit, die auch ohne Behandlung nie zu Beschwerden oder sogar zum Tod geführt hätte, „Überdiagnose“.
Was sind Überdiagosen nicht?
Wichtig ist: Überdiagnosen sind keine Fehldiagnosen. Bei einer Fehldiagnose wird zum Beispiel ein Krebs diagnostiziert, obwohl es sich um eine gutartige Zyste handelt. Überdiagnosen sind aber nach medizinischem Verständnis „richtige“ Diagnosen.
Überdiagnosen sind auch etwas anderes als falsche Verdachtsbefunde. Damit sind Auffälligkeiten zum Beispiel in einem Röntgenbild gemeint, die sich bei weiteren Untersuchungen als harmlos herausstellen. Fachleute sprechen dann auch von falsch-positiven Befunden.
Woher weiß man, dass es Überdiagnosen gibt?
Überdiagnosen gibt es bei fast allen Früherkennungsuntersuchungen. Viel Aufmerksamkeit bekommen sie zum Beispiel bei der Früherkennung von Brust- und Prostatakrebs.
Dass es bei diesen beiden Krebsarten Überdiagnosen gibt, weiß man aus Studien, in denen mehrere 10.000 Frauen und Männer über viele Jahre beobachtet wurden. In diesen Studien wurde einer Hälfte der Teilnehmenden die Früherkennung angeboten, der anderen Hälfte nicht. Da die Teilnehmenden ansonsten vergleichbar waren, würde man erwarten, dass im Laufe der Zeit in beiden Gruppen die gleiche Zahl von Krebserkrankungen auftritt. Forschungsgruppen haben dann über Jahre hinweg die Zahl der Krebsfälle in den beiden Gruppen verglichen. Das Ergebnis: In der Gruppe mit Früherkennung gab es deutlich mehr Diagnosen. Bei der Früherkennung von Brustkrebs zeigen die Studien beispielsweise, dass etwa 2 von 10 gefundenen Tumoren ohne Früherkennung nie aufgefallen wären. Bei Prostatakrebs könnten es sogar 3 von 10 der Diagnosen sein, die nach einem PSA-Test gefunden werden.
Wie kommt es zu Überdiagnosen?
Überdiagnosen kann es grundsätzlich bei allen Früherkennungsuntersuchungen geben. Bei Krebs sind sie besonders bedeutsam, weil hier zum einen viele Früherkennungsuntersuchungen angeboten werden. Zum anderen ist es gerade bei frühen Krebsformen oft unmöglich, verlässlich vorherzusagen, wie sich ein kleiner Krebs weiterentwickelt. Nicht jeder Krebs wird groß und lebensgefährlich, es gibt auch folgende Möglichkeiten:
- Der Krebs wächst zwar, aber so langsam, dass die Person an einer anderen Ursache stirbt, bevor der Tumor durch Beschwerden auffallen kann.
- Ein Krebs wächst gar nicht oder verschwindet sogar von selbst wieder, sodass er auch dann unbemerkt bleibt, wenn jemand sehr lange lebt.
Dass es nicht oder langsam wachsenden Krebs gibt, weiß man aus Obduktionen an älteren Frauen und Männern, die an anderen Ursachen gestorben sind. In solchen Studien wurde zum Beispiel bei Männern die Prostata sehr genau untersucht. Das Ergebnis: Etwa 3 von 10 Männern zwischen 60 und 70 hatten einen kleinen Prostatakrebs, von dem sie zu Lebzeiten nichts wussten.
Welche Folgen haben Überdiagnosen?
Die Folgen einer Überdiagnose hängen vor allem von der Krankheit ab: Wenn eine Krankheit gefunden wird, die nicht weiter bedrohlich wirkt und einfach zu behandeln ist, sind die Auswirkungen nicht schwerwiegend. Anders ist das aber beispielsweise bei einer Krebsdiagnose. Dann ist oft schon die Diagnose selbst eine schwere Belastung und ein gravierender Einschnitt ins Leben.
Bei einem einzelnen Menschen ist es normalerweise unmöglich, zu beurteilen, ob es sich bei einem Befund um eine Überdiagnose handelt. Deshalb kommt es zu Behandlungen, sogenannten „Übertherapien“. Auch diese Behandlungen wie zum Beispiel Operationen sind belastend und unter Umständen mit Risiken verbunden.
Überdiagnosen: Ein Beispiel
Stellen Sie sich eine Frau namens Andrea vor. Sie ist 65 Jahre alt und hat einen kleinen, sehr langsam wachsenden Tumor in der Brust. Davon weiß sie aber nichts. Sie stirbt mit 77 Jahren – nicht an Brustkrebs, sondern an einem Herzinfarkt.
Wäre sie mit 65 Jahren zur Früherkennung gegangen, hätte sie die Diagnose Brustkrebs erhalten, viele Ängste ausstehen und mit einer belastenden Behandlung zurechtkommen müssen. Sie und ihr Behandlungsteam wären danach der Meinung gewesen, dass ihr Tumor erfolgreich „geheilt“ worden wäre. In Wahrheit hätte sich ihre Lebenserwartung aber nicht verändert. Die Zeit als Krebspatientin hätte aber ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität deutlich verschlechtert.
Bei welchen weiteren Untersuchungen kann es noch zu Überdiagnosen kommen?
Überdiagnosen gibt es nicht nur bei der Krebsfrüherkennung. Ein weiteres Beispiel sind Erweiterungen von Gefäßen, sogenannte Aneurysmen. Auch bei Veränderungen der Bandscheiben gibt es Überdiagnosen. Manche Erkrankungen werden rein zufällig entdeckt – zum Beispiel bei der Abklärung eines ganz anderen Gesundheitsproblems. Oder bei einer Routineuntersuchung fällt eine Abweichung von einem Normwert oder eine Gewebeveränderung auf. Wie oft wir „krank“ sind und wieder gesund werden, ohne etwas davon zu merken, wissen wir nicht.
Wie kann man Überdiagnosen vermeiden?
Überdiagnosen wären ein deutlich kleineres Problem, wenn man bei der Diagnose einer Krankheit ihren weiteren Verlauf zuverlässig vorhersagen könnte. Forscherinnen und Forscher suchen hier nach Möglichkeiten, aber bislang sind keine sicheren Vorhersagen möglich. Zumindest gibt es bei manchen Erkrankungen die Möglichkeit, erst einmal mit einer Behandlung zu warten: Bei frühem Prostatakrebs sind zum Beispiel manche Männer nach einer sorgfältigen Aufklärung bereit, erst einmal auf eine Behandlung zu verzichten und abzuwarten, wie sich ihr Tumor in den nächsten Monaten und Jahren verhält.
Wer eine Überdiagnose auf jeden Fall vermeiden will, müsste deshalb auf sämtliche Untersuchungen zur Früherkennung verzichten.
Da einige Früherkennungsuntersuchungen auch Vorteile haben können, bietet es sich an, sich vorher gründlich zu informieren und die Vor- und Nachteile jeder Untersuchung getrennt abzuwägen. Möglicherweise entscheidet man sich für eine bestimmte Untersuchung – und gegen eine andere. Früherkennungsuntersuchungen sind nie dringend; es ist immer genug Zeit, sich zu informieren.
Wie entscheiden?
Ein wichtiger Aspekt dabei ist, ob denn überhaupt für eine Untersuchung ein Nutzen nachgewiesen ist. In Praxen und Kliniken werden viele Untersuchungen angeboten, bei denen das nicht der Fall ist. Bei solchen Tests geht man Risiken ein, ohne zu wissen, ob ein Vorteil existiert.
Gut über die Vor- und Nachteile von Untersuchungen informiert zu sein, kann helfen, zu einer Entscheidung zu finden, die den eigenen Bedürfnissen entspricht:
- Lassen Sie sich lieber regelmäßig untersuchen, auch wenn Sie dadurch Überdiagnosen in Kauf nehmen müssen – mit all ihren körperlichen und psychischen Folgen?
- Oder möchten sie es lieber vermeiden, mit unnötigen Diagnosen und Therapien belastet zu werden? Und nehmen dafür in Kauf, dass eine ernsthafte Krankheit erst später entdeckt wird und vielleicht nicht mehr so gut behandelt werden kann?
Eine solche Entscheidung fällt vielen schwer. Wichtig ist, sich bewusst mit dem Für und Wider auseinanderzusetzen. Besprechen Sie sich mit vertrauten Personen und fragen Sie ruhig auch weitere Ärztinnen und Ärzte nach den Vor- und Nachteilen einer Untersuchung.
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Ob eine der von uns beschriebenen Möglichkeiten im Einzelfall tatsächlich sinnvoll ist, kann im Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt geklärt werden. Gesundheitsinformation.de kann das Gespräch mit Fachleuten unterstützen, aber nicht ersetzen. Wir bieten keine individuelle Beratung.
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