Die Essstörung war Ausdruck des enormen Drucks

Porträt eines nachdenklichen Mannes

Hans, Vater von Nina (später Lamin), 63 Jahre

„Nina beschäftigte sich viel mit Essen und gesunder Ernährung. Wenn eine Feier anstand, backte sie für alle Kuchen in großen Mengen. Deswegen kam keiner auf die Idee, dass da etwas nicht stimmen könnte. Im Gegenteil: Sie war ja sehr sozial und genussorientiert.“

Mein älteres Kind ist als Mädchen auf die Welt gekommen und hatte mit 20 Jahren sein Coming-Out und wurde zum jungen Mann. Was das Essen anging, war Nina als kleines Kind völlig unproblematisch und unauffällig. Kurz nach ihrem 14. Geburtstag gab es aber eine Veränderung, die viel ins Rollen brachte: Wir waren einen Sommer lang in Österreich in Urlaub, Nina liebte die österreichische Küche und nahm trotz der anstrengenden Wandertouren, die wir unternahmen, deutlich zu.

Aus der eher kindlich-mädchenhaften Figur wurde innerhalb weniger Monate ein frauliche mit Rundungen. Sie fand das gar nicht lustig und äußerte das auch: „Das ist ja ekelhaft, das gefällt mir gar nicht, wie ich aussehe!“

Als Eltern haben wir ihr zugesprochen und ihr gesagt, dass es wichtig ist, dass man sich selbst annimmt und dass es eine natürliche Entwicklung mit der Pubertät sei.

Nina nahm schnell wieder ab

Kurz danach veränderte sich aber einiges: Nina begann Kalorien zu zählen, aß insgesamt viel weniger, sehr fettarm und fast nur noch Rohkost. Dadurch nahm sie innerhalb von vier Monaten wieder ab und hatte ihre ursprüngliche knabenhaft-kindliche Figur mit leichtem Untergewicht. Sie war zwar etwas blass und hatte ihre Regel mit 14,5 Jahren noch nicht, war aber ansonsten vital und leistungsfähig.

Meine Frau machte sich trotzdem Sorgen wegen des schnellen Abnehmens. Sie vereinbarte einen Termin in einer jugendpsychiatrischen Ambulanz, um sich beraten zu lassen. Die Wartezeit betrug aber mehrere Monate.

Auch ich machte mir Gedanken: Meine Schwester hatte in der Pubertät nämlich eine Essstörung entwickelt, die später als Erwachsene aber wieder verschwand. Deswegen sprach ich mit Nina und sagte ihr, dass mir aufgefallen sei, dass sie so stark abgenommen habe.

Sie antwortete mir sehr natürlich und ohne Vorwurf: „Ach Papa, mach dir keine Sorgen, ich bin nicht magersüchtig. Dafür esse ich viel zu gerne!“ Das war sehr glaubhaft.

Sie ging regelmäßig laufen, irgendwann wurde es aber extrem

In den folgenden Monaten nahm sie wieder ein wenig zu und begann deswegen mit Sport. Wir gingen als Vater und Tochter gemeinsam morgens laufen. Sie war sehr talentiert und richtig gut. Schon kurze Zeit später lief sie morgens alleine immer längere Strecken, bei denen ich nicht mehr mithalten konnte.

Sie bekam eine sehr sportliche Figur, wirkte gesund und leistungsfähig. Und wehrte sich, zur Beratung in die Ambulanz zu gehen: „Sagt den Termin bloß ab, wozu soll das denn gut sein?“

Wir wollten sie nicht in die Krankheitsecke schieben, sie war ja fit. Deswegen schoben wir die Sorgen zur Seite und cancelten den Termin. Im Nachhinein bedauern wir das beide als Eltern. Vielleicht hätten wir dort schon früh Hinweise bekommen, worauf wir hätten achten können.

In der Zeit kriselte es auch in unserer Ehe, wir kommunizierten nicht mehr so viel miteinander und trugen manche Streitigkeiten über die Kinder aus. Vielleicht war das für die Entwicklung der Essstörung unseres Kindes auch nicht unwichtig.

Sport, Schule, Musik: Sie wurde immer ehrgeiziger

Mit der Zeit wurde Ninas Ehrgeiz extremer. Sie ging in den Leichtathletikverein und spezialisierte sich in der Langstrecke: Vor allem Zehn-Kilometer-Läufe und die Halbmarathon-Strecke von 21 Kilometern lagen ihr.

Sie war so schnell, dass ihr Trainer sie in der U18 im hinteren Bereich der deutschen Bestenliste sah. Ich lief mit ihr immer die ersten acht Kilometer und musste mich schon extrem anstrengen, um das Tempo halten zu können, das sie insgesamt dreimal so lang lief.

Auch in der Schule und in der Musik engagierte sie sich sehr. Wir waren als Eltern nicht ganz unbeteiligt: Gute Leistungen in der Schule wurden von uns gefördert und belohnt. Auch die Musik spielte eine große Rolle in der Familie: Wir Eltern sind beide Musiker, mit dem Schwerpunkt Klavier.

Die Kinder waren bei den „Jugend musiziert“-Wettbewerben angemeldet, gewannen Preise und übten viel. Nina bekam viel Aufmerksamkeit über die Musik, fuhr oft übers Wochenende alleine zu Hospitationen und nahm an Förderprogrammen teil.

Mit 15 Jahren begann sie sogar eine Ausbildung zur Kirchenmusikerin und schloss diese mit 17 Jahren mit sehr guten Noten ab. Alles neben der Schule und dem vielen Sport! Ich war mir nicht sicher, ob es nicht zu viel für sie war. Aber sie wollte es und meine Frau sprach mir zu und sagte, dass sie es so auch von ihrer eigenen Jugend kenne.

Nina zog sich zurück und hatte keine richtigen Freunde mehr

Doch mit der extremen Leistungssteigerung im Sport und in der Schule kamen auch die ersten Auffälligkeiten im Sozialleben. Normale Freundschaften gab es nicht mehr, sondern nur Funktionsbekanntschaften: ein paar aus dem Leichtathletikverein und ihre Musik-Partnerinnen bei der Kammermusik, das war‘s. Aber echte Freundinnen, mit denen sie abhing und denen sie sich anvertraute, hatte sie nicht.

Auch in der Familie hatten wir nicht mehr so engen Kontakt. Nina kam zwar zu den Mahlzeiten und aß etwas, war aber nicht wirklich geistig anwesend. Sie beschäftigte sich aber viel mit Essen und gesunder Ernährung. Ab dem Alter von 12 Jahren ernährte sie sich vegetarisch, ab 16 konsequent nur noch vegan. Da sie sehr viel Sport trieb, musste sie in der Zeit genau darauf achten, genug Proteine zu sich zu nehmen.

Sie hortete Lebensmittel in ihrem Zimmer

Nina konnte auch einen regelrechten Ehrgeiz entwickeln, wenn etwas für eine Mahlzeit fehlte. Einmal hatten wir zum Abendessen keine Gurken mehr für den Salat, die sie aber liebte. Obwohl das Essen schon auf dem Tisch stand und die Familie versammelt war, fuhr sie mit dem Fahrrad in der Dunkelheit zum Supermarkt, um im Rekordtempo Gurken einzukaufen.

Wenn eine Feier anstand, backte sie für alle in großen Mengen veganen Kuchen. Deswegen kam keiner auf die Idee, dass da etwas nicht stimmen könnte. Im Gegenteil: Sie war ja sehr sozial und genussorientiert.

Was uns aber kurz aufschreckte, war ein Fund meiner Frau: Nina hortete große Mengen an kohlenhydratreichen Lebensmitteln wie Keksen oder Nudeln in ihrem Zimmer. Immer sehr viele Pakete einer Sorte. Darauf angesprochen, erklärte uns Nina, dass sie sehr viel essen müsse, weil sie durch den Sport viele Kalorien verbrenne. Das akzeptierten wir damals und hinterfragten es nicht.

Erst später erfuhren wir, dass sie Ess-Brech-Anfälle hatte

Durch den exzessiven Sport bekam Nina Knieprobleme und musste pausieren. Dadurch nahm sie etwas zu, hatte aber immer noch eine normale Figur, sie war nur nicht mehr so muskulös. Um wieder abzunehmen, fing sie an, sich nach dem Essen zu erbrechen, und entwickelte kurz danach eine Ess-Brech-Sucht (Bulimie): Sie schlang sehr große Mengen an Lebensmitteln in sich hinein und erbrach danach alles wieder. Das haben wir aber erst viel später realisiert.

Sie zog mit 18 aus, machte in einer anderen Stadt ein freiwilliges ökologisches Jahr und wurde wenig später wegen starker Depressionen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort machte sie eine Psychotherapie, bekam und erholte sich langsam. Sie lebte zunächst aber ihre Essstörung verdeckt weiter: Sie backte für alle Patienten und das Personal in großen Mengen vegane Kuchen, für die sie vorher massenhaft Zutaten einkaufte.

Nach der Entlassung besuchte ich sie und bemerkte, dass sie es hinauszögerte, morgens duschen zu gehen. Als ich fragte, warum, antwortete sie: „Ich finde meinen Körper ekelhaft, ich bin so fett geworden und ertrage es nicht, mich beim Duschen nackt zu sehen.“ Durch die hatte sie zugenommen und fand sich selbst unerträglich.

In der Therapie wurde klar, dass sie sich als Mann fühlte

Im Rahmen der wurde Nina immer klarer, dass sie sich als Mann fühlte. Und auch, dass sie unter einer Essstörung litt. Ich wechsele jetzt zum „er“, da sich unser Kind mittlerweile männlich definiert und seine Transition hinter sich hat. Sein Name ist nun Lamin.

Im Nachhinein wusste er schon sehr früh, dass er anders war. Dass er sehr unglücklich war, hat er selbst weggeschoben und verdrängt. Es durfte nicht sein.

Zu den Depressionen kamen Autismus und ADHS hinzu

Ein paar Monate später war Lamin noch einmal in der Psychiatrie, weil es ihm so schlecht ging. In der Nachsorge kam heraus, dass er neben den Depressionen eine Autismus-Spektrum-Störung und ADHS hatte.

Die Autismus hat uns gar nicht so erstaunt. Vor allem im letzten Jahr in der Schule wurde deutlich, dass er ein Mensch war, der im Alltag eine feste Struktur brauchte, dann aber intensiv in eine Sache eintauchen konnte. Was ihm nicht lag, war, mehrere Dinge gleichzeitig im Blick zu behalten und mit anderen Menschen zu interagieren.

Lamin sagt selbst, dass er die Autismus-Zeichen bei sich schon sehr früh wahrgenommen hätte, dass er sich aber zum Ziel gesetzt hätte, in dieser Gesellschaft zu funktionieren. Deswegen schaute er sich mit viel Energie soziale Verhaltensweisen von anderen Menschen ab.

Die Essstörung hörte mit der Transition zum Mann auf

Mit 20 Jahren schließlich hatte Lamin sein Coming-Out, ging offen damit um und begann eine Testosteron-Therapie. Seitdem ist die Essstörung nicht mehr da. Er verlor an Gewicht, bekam Muskeln und eine sehr gute Kondition. Er ist sogar wieder in seinem alten Leichtathletikverein und läuft nun hobbymäßig.

Ich würde die Essstörung als ein zweier Sachen sehen: auf der einen Seite Stress und Druck – aber auch als Zeichen, dass er sich nicht als Frau mit schwellenden Hüften und Busen sah. Auch wenn Lamin sich damals noch nicht männlich definierte, wollte er eher ein junges Mädchen mit knabenhafter Figur bleiben.

Vorbeugung: keine Lebensmittel horten, zusammen kochen per Videokonferenz

Ein Ziel im Rahmen der war, keine Lebensmittel mehr zu Hause zu horten, um das Risiko einer Essattacke zu verringern. Ich hatte mal unbedacht angeboten, einen Großeinkauf mit Lamin zu machen und zu bezahlen, weil ich wusste, dass er als junger Mensch nicht viel Geld hatte. Er sagte mir, dass es wegen seiner Essstörung nicht ganz so schlau wäre.

Eine andere Maßnahme, die er sich auch heute noch wünscht: Wenn er für sich alleine Essen macht, neigt er dazu, nicht zu kochen, sondern eine ganze Packung Brot zu essen oder sich nur Nudeln pur zu kochen. Deswegen verabreden wir uns über eine Videokonferenz und kochen zusammen, jeder in seiner Stadt und in seiner Küche. Das stabilisiert und motiviert ihn, vorher ausgewogen einzukaufen.

Heute würde ich weniger Leistung fördern, sondern mehr das Miteinander

Ich mache mir als Vater und wir uns als Eltern heute Gedanken, ob wir irgendetwas anders hätten machen sollen, aufmerksamer sein, um früher handeln zu können.

Die schlechte Beziehung der Eltern und die spätere Trennung hatten bestimmt einen Einfluss: Wir haben nicht gestritten, aber bei Mahlzeiten nicht miteinander geredet und die Kinder teilweise als Verbündete gegen den Partner genutzt. Darauf bin ich nicht stolz, das war bestimmt nicht leicht für die Kinder.

Auch was den Leistungsdruck angeht, bin ich nicht sicher, ob wir da nicht unterschwellig zu viel gefordert haben. Man ist ja stolz auf sein Kind, das so vieles schafft. Gerade was die Musik angeht, haben wir schon sehr den Aspekt „kulturelle Leistungsfähigkeit“ gefördert und weniger das Miteinander an sich.

Ich würde viel früher mit Ärzten reden, es kann ja auch schon die Kinderärztin oder der Kinderarzt sein. Einfach eine Info oder Beobachtung durchgeben.

Und bei extrem leistungsorientiertem Verhalten von Kindern und Jugendlichen aufmerksam werden. Nicht nur Leistung und Erfolg belohnen, sondern schauen, dass sie empathische, freundliche Menschen werden – und auch das fördern und belohnen.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Über diese Seite

Erstellt am 12. November 2025

Nächste geplante Aktualisierung: 2028

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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