Autisten haben Gefühle – sie drücken sie nur anders aus

Foto von lockiger Frau mit Schal im Profil im Freien

Johanna, 51 Jahre – Mutter von Thomas, 15 Jahre

„Manche denken, dass Autisten keine Gefühle hätten. Dabei haben sie ein genauso reiches Innenleben wie andere auch. Wenn sie sich aber immer wieder missverstanden und alleine fühlen, können manche komplett verstummen und so wirken, als wären sie gefühllos.“

Unser Sohn war von Beginn an ein merkwürdiges Persönchen. Als Baby schrie er wahnsinnig schrill, er trank vor allem nachts und dann besonders viel.

Später kamen einige seltsame Verhaltensweisen dazu: Wenn er nicht verstanden wurde oder nicht bekam, was er wollte, ging er in die Knie und schlug mit dem Kopf immer wieder heftig gegen den Boden.

Außerdem lief er über Stunden immer im Kreis und wiederholte ständig dieselben Laute wie „dedededede“. Oder er streckte die Zunge heraus, wischte sich mit der Handfläche über die Zunge und dann mit der nassen Hand über das ganze Gesicht.

In den ersten Jahren war er sehr auf den eineinhalb Jahre älteren Bruder fixiert und ahmte ihn in allem nach. Auf andere Kinder ging er zunächst freudig und neugierig zu, eckte aber an, weil er sehr laut war dabei.

Im Kindergarten gab es erste größere Probleme

Im Kindergarten bekamen wir später als Eltern zurückgemeldet, dass er mit drei Jahren vieles noch nicht konnte, was eigentlich altersgerecht gewesen wäre. Deswegen nahmen wir ihn nach ein paar Monaten wieder raus und starteten ein Jahr später einen neuen Versuch.

Es wurde aber nicht besser: Er eckte häufig an und zog sich deswegen immer mehr zurück. Meist spielte er alleine, baute Fallen aus Bauklötzen und stellte Spielzeugtiere hinein. Als würde er sich genauso wie die Tiere fühlen: gefangen und allein.

Den Verdacht auf Autismus äußerte eine Gastlehrerin

Im ersten halben Jahr seiner Grundschulzeit war er in einer Waldorfschule. Dort bekamen die Kinder zwar klare Aufgaben. Thomas war allerdings damit überfordert und legte sich einfach in ein Regal, beobachtete die anderen und sagte den ganzen Tag lang nichts. Die Lehrer hatten nicht die Energie, ihn da rauszuholen und sich um ihn zu kümmern. Deswegen hieß es, er sei verträumt und hätte vielleicht eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS). Richtig gepasst hat es aber nicht.

Wir meldeten ihn zum zweiten Halbjahr in einer staatlichen Grundschule an und hofften, dass es besser wird. Leider war die Zeit dort aber eine richtige Katastrophe: Er kam nicht mit und fiel mit seltsamem Verhalten auf, zum Beispiel mit den Fingern an die Wand zu schreiben statt mit einem Stift ins Heft oder sich selbst mit der Zunge abzulecken. Die anderen Kinder verstanden ihn nicht und gingen auf Distanz. Er spürte das und litt wie ein Hund.

Als eine Gastlehrerin aus einer Förderschule in seiner Klasse hospitierte, hatte sie den Verdacht, dass er autistisch sein könnte. Die Schule der Gastlehrerin hatte den Förderschwerpunkt „körperliche und motorische Entwicklung von Kindern“ und sie war sehr erfahren, was die Besonderheiten von autistischen Kindern angeht. Sie empfahl uns, ihn eine Woche lang ihre Schule besuchen zu lassen.

Und dort blühte er regelrecht auf: Die Kinder wurden in ihren Leistungen nicht miteinander verglichen, hatten genug Rückzugsräume und es gab feste Strukturen im Tagesablauf. Thomas stach dort nicht heraus und entspannte sich. Nach dieser Woche wollte er nicht mehr zurück in die alte Schule. Deswegen leiteten wir sofort alles in die Wege, damit er offiziell angemeldet wurde.

Die Diagnose Autismus im Alter von zehn Jahren war eine Erleichterung

Thomas wurde auf Autismus getestet – und tatsächlich bestätigte sich der Verdacht: Er hatte ein Asperger-Syndrom, eine leichte Form von Autismus, ohne dass die Intelligenz vermindert ist. Die Bezeichnung ist aber veraltet, heute spricht man eher von Autismus-Spektrum mit ganz vielen verschiedenen Varianten.

Plötzlich bekamen wir alle mehr Verständnis und Hilfe, weil man es benennen konnte. In der ersten Zeit erklärte ich allen Menschen, dass Thomas Autist ist, wenn er aneckte. Zum Beispiel dem Optiker, der unwirsch wurde, als er beim Sehtest unangemessen reagierte und nicht richtig mitmachte. Nachdem er Bescheid wusste, entschuldigte sich der Optiker für seine Ungeduld und nahm sich viel Zeit für ihn. Es war so erleichternd, dass ich die eine Zeit lang wie ein Schutzschild vor mir hertrug. Heute bin ich gelassener und entscheide bewusst, wann ich es erzähle und wann nicht.

Feste Abläufe und Struktur sind wichtig

Sehr wichtig für Thomas sind bis heute feste Abläufe und Vorhersehbarkeit. Er muss vorbereitet werden, wenn etwas anders läuft als sonst. Zum Beispiel, wenn das Taxi zur Schule später kommen soll. Dann braucht er mindestens einen Tag Vorlaufzeit, um sich daran zu gewöhnen, und es ist wichtig, ihn mehrmals daran zu erinnern.

Eine Herausforderung ist für ihn auch, Tätigkeiten oder Dinge zusammenfassen. Zum Beispiel kann er nicht in seinen Kleiderschrank schauen, sich vorstellen, was er anziehen will, und dann genau eine Unterhose, ein T-Shirt und eine Hose aus dem Schrank holen. Er schaut in den Schrank und sagt, da ist nichts zum Anziehen. Wenn ich ihm die Sachen als Tagespaket rauslege, ist das kein Problem.

Er setzte sich die Schlafanzughose auf den Kopf

Einmal gab es großen Ärger, als Thomas sich abends ausnahmsweise alleine bettfertig machen sollte. Er lief halb angezogen in seinem Zimmer herum, hatte die Schlafanzughose in der Hand und wusste nicht, was er damit machen sollte.

Ich kam ins Zimmer, schimpfte und wurde noch wütender, als er sich die Hose als Hut auf den Kopf setzte. Ich dachte wirklich, er macht sich lustig über mich. Dann sah ich aber die Verzweiflung in seinen Augen und verstand. Ich setzte mich hin und erklärte ruhig, dass die Hose dort nicht richtig war und an die Beine gehörte.

Diese Geschichte habe ich später immer wieder Menschen erzählt, die meinten, man müsste einfach mehr Grenzen setzen. Einfach Grenzen setzen und nur durchziehen funktioniert bei einem autistischen Kind nicht – alles erlauben und laufen lassen aber auch nicht. Es braucht eine Struktur, aber auch Offenheit im Kopf, um nachzuvollziehen, was gerade bei ihm passiert.

Bei Stress schaut er unter seine Füße oder läuft hin und her

Wenn er Stress hat und zu vielen Reizen ausgesetzt ist, reagiert Thomas heute immer noch ungewöhnlich. Dann fängt er an, seine Füße zu heben und darunter zu schauen – als hätte er keine Bodenhaftung mehr. Oder er läuft hin und her, zieht sich seine Kapuze über den Kopf, sinkt in sich zusammen und will regelrecht verschwinden. Manchmal schreibt er ohne Pause mit dem Zeigefinger auf die Handfläche der anderen Hand und beruhigt sich damit.

Er kann auch verschiedene Nahrungsmittel nur getrennt essen und hat einen Horror davor, zum Beispiel Reis mit Erbsen oder Nudeln mit Sauce zusammen im Mund zu haben. Diese Eigenheit habe ich bei vielen autistischen Kindern beobachtet.

Kurze Auszeiten helfen, nicht in die Überforderung zu kommen

Als die feststand, machte Thomas eine Autismus-Verhaltenstherapie in Einzelsitzungen, in der ihm viel über Autismus erklärt wurde, über soziales Verhalten und wie er mit anderen Menschen kommunizieren und zurechtkommen kann. Mit großem Erfolg: Mit zwölf Jahren konnte er sehr reflektiert formulieren, was in ihm vorging.

In der las er ein Buch einer Comic-Zeichnerin, die selbst Autistin ist. In dem Buch werden die Unterschiede zwischen der Welt von Autisten und anderen Menschen erklärt – ohne Wertung. Er musste lächeln, als er erkannte, dass die Autorin dieselben Probleme im Alltag hatte wie er, und bekam auch einige Anregungen. Zum Beispiel, in regelmäßigen Abständen eine kurze Pause einzulegen, um nicht in eine Überforderung zu kommen. In der Familie vereinbarten wir deswegen, dass er jederzeit eine kurze Pause von 15 Minuten einlegen kann. Gerade bei Restaurantbesuchen oder Treffen mit der Großfamilie hilft es ihm sehr: Er geht kurz raus, läuft die Straße hoch und runter und ist viel entspannter, wenn er zurückkehrt.

Thomas hat ein reiches Innenleben

Manche denken, dass Autisten keine Gefühle hätten. Als ich das Thomas erzählte, schimpfte er wie ein Rohrspatz: „Natürlich haben Autisten Gefühle, sie drücken sie nur anders aus!“ Sie haben ein genauso reiches Innenleben wie andere auch. Wenn sie sich aber immer wieder missverstanden und alleine fühlen, kann es meiner Meinung nach dazu führen, dass sie komplett verstummen und so wirken, als wären sie gefühllos. Mein Eindruck ist eher, dass ihr reiches Innenleben nicht so strukturiert und verknüpft ist wie bei anderen Menschen.

Außerdem können sie Reize von außen nicht gut filtern. Wenn es irgendwann zu viel wird, kommen solche Reaktionen wie zum Beispiel im Kreis herumlaufen oder auf die Handinnenflächen schreiben. Oder sie schotten sich komplett ab und sind nicht mehr erreichbar. Mein Gefühl ist, dass sie in diesen Momenten ihre ansonsten sehr durchlässige Hülle zur Außenwelt zumachen und ihre Akkus aufladen.

Regeln hält er zu hundert Prozent ein

Wenn jemand alles ungefiltert wahrnimmt und direkt und authentisch reagiert, ist das aber auch eine Stärke. Thomas hat eine gute Intuition und weiß schnell, was er von einem Menschen halten soll. Als hätte er eine geheime Kraft, in die Menschen hineinzusehen und sie so zu erkennen, wie sie wirklich sind.

Eine weitere Stärke: Wenn er eine Regel verstanden hat und sie für ihn logisch und griffig ist, hält er sie ein. Immer und zu hundert Prozent. Dann ist er unter den drei Geschwistern das Kind, bei dem ich mir keine Gedanken mehr machen muss, während die anderen zwei manchmal diskutieren und sich rauswinden wollen.

Eine große Herausforderung für die Familie

Für mich als Mutter war es wahnsinnig schwierig, dieses Kind großzuziehen. Zu Beginn verstand ich mein eigenes Kind nicht und wusste nicht, was zu tun ist. Gleichzeitig hörte ich ständig Kritik, was ich alles falsch machte und ändern sollte.

Auch unsere Ehe war belastet, unter anderem hat das Thema der Erziehung unseres autistischen Sohnes eine Rolle gespielt. Seine Großmutter kam von Anfang an nicht mit ihm zurecht und ignoriert ihn bis heute. Wenn sie zu Besuch kommt, bringt sie nur 2 statt 3 Geschenke für die Kinder mit, als wäre er nicht da.

Die Beziehung seiner Geschwister zu ihrem autistischen Bruder ist gemischt: Auf der einen Seite unterstützen sie ihn und integrieren ihn, so gut es geht. Auf der anderen Seite wäre es für sie entspannter, wenn ihr Bruder kein Autist wäre. Sie haben schon das Gefühl, dass er bevorzugt wird.

Ein anderer Blick auf die Welt und viele lustige Situationen

Dieses Kind hat mir aber auch sehr viel beigebracht: hinzuschauen und sofort zu handeln. Weil autistische Kinder so wenig kaschieren und so extrem reagieren, muss man aufmerksam bleiben, sonst eskaliert es. Und man ist gezwungen, einen anderen Blickwinkel einzunehmen und gewohnte Bewertungen und Zusammenhänge auch mal in Frage zu stellen.

Trotz aller Anstrengung und auch manchmal Verzweiflung ist das Leben sehr reich mit einem autistischen Kind. In der Pandemie-Zeit zum Beispiel bekamen die Kinder die Unterlagen für den Distanzunterricht von der Schule nach Hause geschickt. An dem Tag kam zufällig auch ein Päckchen mit Schuhen für die Jungs an.

Da die Schuhe etwas zu groß waren, fragte sein Vater, ob wir das Päckchen zurückschicken sollen. Thomas rümpfte die Nase und sagte voller Überzeugung: „Zurückschicken natürlich, die gefallen mir nicht“ – und meinte die Schulunterlagen!

Ich bin stolz auf seine Entwicklung

Glücklicherweise hat mein Sohn bis heute keine weiteren psychischen Erkrankungen oder Belastungszeichen wie Ängste oder Depressionen. Ein großer Schatz ist, dass er sich mittlerweile sehr gut ausdrücken kann und weiß, was er braucht und was nicht. Die Phase der Wortlosigkeit in der frühen Kindheit war sehr schwer für alle.

Trotzdem mache ich mir Gedanken darum, wie er später leben wird: Wird er alleine zurechtkommen? Oder passt betreutes Wohnen besser? Und was werden es für Menschen sein, denen er dann anvertraut ist?

Ausgrenzung und Toleranz ist auch ein gesellschaftliches Thema

Ich würde mir wünschen, dass es mehr Wissen über autistische Menschen gibt. Das Schwierige ist allerdings, dass es bei Autismus ganz viele Varianten und Ausprägungen gibt. Nur weil sie dieselbe haben, heißt es nicht, dass zwei autistische Menschen gleich reagieren, dasselbe denken und brauchen.

Genauso wichtig ist, Autismus nicht als Defizit zu sehen. Für mich ist mein Sohn nicht nur eine Belastung, sondern auch eine große Bereicherung. Mehr Toleranz zu fördern und Menschen nicht als falsch und unpassend auszugrenzen, ist auch ein gesellschaftliches und politisches Thema. Das fängt bei der Nationalität oder Hautfarbe an, geht über körperlich und psychisch Kranke bis hin zu sozial auffälligen Menschen wie Autisten.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Über diese Seite

Erstellt am 15. Oktober 2025

Nächste geplante Aktualisierung: 2028

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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