Die alten Gewohnheiten legt man nur sehr langsam ab

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Sandra, 46 Jahre

„Die Operation ist kein Allheilmittel. Da muss jeder ganz tief in sich gehen und überlegen, ob man wirklich diesen Schritt gehen möchte.“

Eigentlich fühle ich mich schon viele Jahre viel zu dick. In der Pubertät fing es mit dem Übergewicht an. Ich wog immer mehr als meine Freundinnen. Und als sich das erste Kind angekündigt hat, ist mein Gewicht regelrecht explodiert: Ich habe innerhalb von drei Monaten 28 Kilo zugenommen. Nach der Geburt habe ich zwar etwas abgenommen, aber auch ganz schnell wieder zu.

Vonseiten meiner Eltern kannte ich Übergewicht nicht. Meine Mutter und mein Vater waren beide sehr schlank und achteten sehr auf ihre Figur. Aber meine Oma, bei der ich groß geworden bin, war übergewichtig – genau wie meine Tante und mein Onkel mütterlicherseits.

Ich habe jahrzehntelang immer wieder versucht, abzunehmen. Ich glaube, ich habe alle Diäten gemacht, die es gibt. Und immer ein paar Kilo abgenommen, eine Zeitlang habe ich es auch knapp unter 100 Kilo geschafft. Aber dann schnellte das Gewicht auch wieder hoch – wie ein Jo-Jo. Am Ende wog ich um die 130 Kilo bei einer Körpergröße von 1,73 m.

Eine Ärztin verschrieb mir ein Präparat, das die Fettaufnahme aus der Nahrung hemmen sollte. Ich habe es drei Wochen lang genommen, hatte aber ständig Bauch- und Kopfschmerzen – ohne dabei abzunehmen. Dann habe ich es wieder gelassen.

Ich habe wirklich alles versucht. In einer Mutter-Kind-Kur wurde ich auf Diät gesetzt, in einer Klinik ein paar Jahre später bin ich zur Adipositas-Sprechstunde gegangen und habe mich anschließend in einer Adipositas-Selbsthilfegruppe engagiert.

Ich habe beim Essen das Gehirn ausgeschaltet

Natürlich haben die Ärzte mir immer wieder gesagt, dass ich etwas tun muss. Aber das ist immer so leicht gesagt, mit fünf Kindern hat man ja auch einen vollen Alltag. Also im Kopf war mir das immer klar, aber ich glaube, das Herz wollte nicht.

Meine Mutter hat immer gesagt, sie versteht das nicht: Alles, was ich in meinem Leben wirklich wollte, das habe ich auch erreicht. Aber mit dem Gewicht, das habe ich nie hinbekommen.

Vielleicht habe ich einen Schutzpanzer gebraucht. Ich habe immer gegessen, wenn Stress war, positiver und negativer: Ich habe gegessen, wenn ich glücklich war und ich habe gegessen, wenn ich traurig war. Aber auch wenn ich Ruhe und Langeweile hatte, um mich abzulenken. Es war für mich eine Entspannung, mich hinzusetzen und zu essen.

Und ich habe beim Essen das Gehirn einfach ausgeschaltet. Nach dem Essen ging es mir zwar schlecht, aber es hat mich nicht davon abgehalten, wieder reinzuhauen.

Die Entscheidung zur Operation

Irgendwann ist mir aber der Kragen geplatzt, das war vor drei Jahren. Da war ich an einem Punkt angekommen, an dem ich so nicht mehr leben wollte. Ich hatte eine Lungenembolie hinter mir, meine Lunge und mein Herz waren nicht mehr so leistungsfähig. Auch meine Knie machten nicht mehr mit: Ich habe auf beiden Seiten Arthrose bekommen.

Ich war körperlich einfach nicht mehr belastbar. Es fiel mir schwer, mich um den Haushalt zu kümmern. Außerdem habe ich mich mit depressiven Gedanken geplagt und mich sozial immer mehr zurückgezogen. Letztlich gab den Ausschlag, dass ich Angst hatte, meine fünf Kinder nicht mehr groß werden zu sehen.

Für mich war klar, ich muss jetzt was machen, ich kriege es allein nicht hin und eine Operation ist meine letzte Chance. Ich bin dann in eine Adipositas-Sprechstunde in einem Krankenhaus in meiner Nähe gegangen. Ich brauchte nur die Bestätigung, dass eine Operation der Weg für mich ist. Da ich einen von 40 hatte, konnte ich die Operation bei meiner Krankenkasse beantragen.

Ein halbes Jahr Vorbereitung

Vor der Operation muss man sechs Monate lang an einem Programm zum Abnehmen nach einem „multimodalen Konzept“ teilnehmen. Es ist auch eine Vorbereitung auf die Operation und die Zeit danach, zum Beispiel was die Umstellung der Ernährung angeht.

Zum Programm gehören Ernährungsberatung, Sportprogramme wie Wassergymnastik, Gespräche mit Psychologen und auch der Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe. In dieser Zeit wurde ich sehr gut von der Adipositas-Ambulanz betreut. Sie haben mir alles erklärt und mich begleitet – von der Ernährungsberatung über den Antrag bei der Krankenkasse bis zur Aufklärung über die Folgen der Operation.

Leider wurde mein Antrag auf Kostenübernahme von der Krankenkasse abgelehnt. Das hat mich sehr belastet. Die Begründung war, dass ich womöglich an einer Essstörung erkrankt bin und diese erst einmal behandelt werden sollte. Obwohl es eine Einschätzung vom Psychologen gab, dass ich keine Essstörung hatte.

Es folgte eine dreimonatige Auseinandersetzung mit der Krankenkasse, bis die Kosten schließlich doch übernommen wurden. Aber es hat viele Nerven gekostet.

Ich fühlte mich befreit

Ich wurde dann vor zwei Jahren operiert und habe einen Magenbypass bekommen. Erst dachte ich, ich will nur einen Schlauchmagen, weil die Operationszeit kürzer und der Eingriff nicht so groß ist. Aber mir wurde zu einer Bypass-OP geraten, da sie für mich besser geeignet wäre.

Die Operation selbst war überhaupt nicht belastend. Ich hatte hinterher ein bisschen Schmerzen von diesem Gas, das vor der Operation in den Körper gepumpt wird. Es zog bis in die Schulter, ging aber schnell vorbei.

Es ging mir vom ersten Tag an sehr gut, es war für mich eine Befreiung. Ich bin noch am gleichen Tag aufgestanden. Und vor allem: Ich hatte überhaupt kein Hungergefühl und dachte: Jetzt kann das neue Leben kommen!

Nahrungsumstellung nach der Operation

Ich hatte großen Respekt vor den Regeln, die man nach der Operation einhalten sollte, damit man das Essen gut verträgt. Zum Beispiel am Anfang nur breiige Kost zu essen und immer einen gewissen Abstand zwischen Essen und Trinken einzuhalten. Und darauf zu achten, eineinhalb Liter pro Tag zu trinken. Das fand ich schwer, weil man am Anfang nur schluckweise trinken kann. Außerdem muss man zu sich nehmen, um keine Mangelerscheinungen zu bekommen. Ich muss zum Beispiel und zusätzlich nehmen.

Was ich zuerst nicht gut vertragen habe, waren Fleisch und Nudeln. Fleisch muss ich bis heute sehr gut und lange kauen. Und Spaghetti liegen mir immer quer im Magen, egal wie gut ich sie kaue. Getränke mit Kohlensäure sind auch nichts für mich, die vermeide ich komplett.

Mir fiel es schwer zu lernen, mir beim Essen Zeit zu lassen. Ich konnte ja nur noch kleine Mengen essen, musste gut kauen. Das war vorher anders: zweimal kauen, schlucken, das war‘s. Daran musste ich mich erst gewöhnen.

Ich habe keine Lust mehr auf Süßes und koche anders

Nach der Operation ändert sich der Geschmack bei vielen. Vor der OP habe ich mich von drei Litern Cola light am Tag ernährt. Das schmeckt mir gar nicht mehr, weil es mir viel zu süß ist. Wenn, dann nehme ich einen Teelöffel echten Zucker in den Kaffee und genieße es. Ich habe auch keinen Heißhunger mehr auf Schokolade, ich esse ein Stückchen, aber nicht mehr tafelweise wie vorher. Tatsächlich habe ich mehr Lust auf Salziges und Herzhaftes, das hat sich geändert.

Ich kaufe auch anders ein, hochwertiger. Ich kaufe keine Light-Produkte mehr. Manchmal nehme ich den vollfetten Quark, davon esse ich aber insgesamt weniger. Auch bei den Kindern achte ich auf eine gesunde Ernährung.

Ich habe insgesamt 56 Kilo in nicht ganz einem Jahr abgenommen. Kurz vor der OP wog ich 129 Kilo und habe immer gesagt: „Wenn ich 80 Kilo wiege, mache ich eine Party“. Mittlerweile hat sich mein Gewicht bei 72 Kilo eingependelt.

Die langfristigen Kontrolluntersuchungen und die Betreuung nach der Operation sind mir sehr wichtig. Man wird ja in den sozialen Medien schon etwas verunsichert mit allen möglichen Geschichten über Vitamin- oder Eiweißmangel nach einer solchen Operation. Aber ich konnte zuerst alle drei Monate und später jedes halbe Jahr in den Kontrolluntersuchungen meine Fragen stellen und war beruhigt, weil die Blutwerte kontrolliert wurden.

Der Kopf kommt noch nicht ganz mit

Ich bin richtig motiviert, ich will gesund sein und gesund bleiben. Und es hat sich so viel geändert: Ich kann mir wieder selbst die Schuhe zubinden und die Fußnägel lackieren, ohne Atemnot zu kriegen. Meinen Knien geht es richtig gut. Das sind so Kleinigkeiten, die aber im Alltag sehr wichtig für mich sind. Ich kann mit meinem Kleinen aufs Trampolin, ohne ein Sauerstoffzelt zu benötigen. Ich habe mich selbstständig gemacht und laufe sehr lange mit dem Hund durch die Gegend. Meine depressiven Gedanken sind weg.

Was mir aber auffällt: Der Kopf kommt immer noch nicht ganz mit. Ich empfinde und spüre mich immer noch als zu dick und erschrecke regelrecht, wenn ich in den Spiegel schaue oder ein Foto von mir sehe und sehe: du bist ja schlank! Das andere Körperbild von mir hatte ich eben viele Jahre, das ändert sich nicht so schnell.

Ich würde mich sofort nochmal operieren lassen. Wir haben gestern gerade einen Ausflug in den Kurpark gemacht, den wir auch vor drei Jahren mit der Familie gemacht haben. Und es war kein Vergleich. Wir sind viel gelaufen, auf Bäume geklettert, das war toll. Ich habe das Gefühl, mein Leben zurückbekommen zu haben.

Aufpassen, dass sich alte Gewohnheiten nicht wieder einschleichen

Nach jetzt zwei Jahren merke ich, dass ich wieder mehr essen kann, weil der Magen sich etwas geweitet hat und mehr Nahrung in meinen Bauch passt. Ich will aber unbedingt aufpassen, nicht wieder in alte Muster reinzurutschen. Denn operiert wird nur der Magen, nicht der Kopf. Die alten Gewohnheiten legt man nur sehr langsam ab.

Hier ist auch die Selbsthilfegruppe für mich so wichtig. In der Gruppe sind auch Menschen, die schon sehr lange mit verkleinertem Magen leben und uns relativ frisch Operierten Tipps für den Alltag geben. Über die Selbsthilfegruppe haben sich auch richtig gute Freundschaften entwickelt. Wir haben als Gruppe vor kurzem einen Volkslauf mitgemacht, das war toll.

Meine Familie hat mich immer unterstützt

Meine Familie und mein Mann haben mich immer unterstützt. Mein Mann hat gesagt: Für mich musst du dich nicht operieren lassen, aber wenn es dir dadurch besser geht, dann machen wir das zusammen.

Meine fünf Jungs haben mir nie gesagt, dass ich zu dick war. Aber ich glaube, es hat sie schon sehr belastet. Hinterher haben sie mich alle unabhängig voneinander in den Arm genommen und sich gefreut. Und sie merken jetzt auch, wie viel lebensfroher ich geworden bin.

Jeder muss selbst entscheiden

Auch wenn ich mit der Operation gute Erfahrungen gemacht habe: Es kann bei jemand anderem ganz anders sein. Da kann man keinen allgemeingültigen Tipp geben. Ich kenne auch eine Frau aus der Selbsthilfegruppe, bei der die Operation zwar gut verlaufen ist, aber nicht den erwünschten Erfolg gebracht hat.

Die Operation ist kein Allheilmittel. Da muss jeder ganz tief in sich gehen und überlegen, ob er wirklich diesen Schritt gehen möchte.

Es gibt auch Übergewichtige, die wiegen das Doppelte und Dreifache von mir damals, und wollen sich nicht operieren lassen. Jeder muss seine eigene Entscheidung treffen. Da gibt es kein richtig oder falsch. Wichtig ist, dass man mit sich selbst im Reinen ist.

Danksagung

Erfahrungsberichte fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.

Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung des IQWiG dar.

Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen. Die Fotos zeigen unbeteiligte Personen.

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Aktualisiert am 24. August 2022

Nächste geplante Aktualisierung: 2025

Herausgeber:

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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