Die Geschichte der evidenzbasierten Medizin

Die hatte von Anfang an zwei Ziele: Zum einen, mit geeigneten Methoden zuverlässige Antworten auf medizinische Fragen zu finden. Zum anderen, Patienten so über die Vor- und Nachteile medizinischer Möglichkeiten zu informieren, dass sie aktiv und selbstbestimmt (mit)entscheiden können.

Bereits in früheren Jahrhunderten gab es einzelne Ärzte, die eine Behandlung an einer Patientengruppe testeten und mit einer Kontrollgruppe verglichen, die diese Behandlung nicht erhielt. So veröffentlichte der schottische Marinearzt James Lind schon 1753 die Ergebnisse seines Versuchs, Skorbut mit Zitronen und Orangen zu behandeln. Dazu hatte er erkrankte Seeleute in Gruppen aufgeteilt und darauf geachtet, dass sie unter denselben Bedingungen lebten und sich im selben Krankheitsstadium befanden. Dann erhielten die Gruppen sechs verschiedene, damals übliche Behandlungen, unter anderem die mit frischen Früchten.

Seine Studie ergab, was für uns heute selbstverständlich ist: Nahrungsmittel, die Vitamin C enthalten, können Skorbut heilen. Allerdings dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich diese Erkenntnis in der Seefahrt durchsetzte.

Wie der Zufall für Vergleichbarkeit sorgt

Was James Linds Experiment bemerkenswert macht, ist die Idee eines fairen Vergleichs. Dafür zu sorgen, dass Patientengruppen auch wirklich miteinander vergleichbar sind, beugt verzerrten Bewertungen vor und ermöglicht verlässliche Ergebnisse. Diese Idee zieht sich durch die Jahrhunderte: In Deutschland beschrieb bereits 1932 Paul Martini in seiner „Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung“ die Grundlagen einer fairen Überprüfung von Arzneimitteln.

Ende der 1940er Jahre haben Forschergruppen in Europa und den USA dann ein weiteres Grundprinzip eingeführt: Die sogenannte Randomisierung. „Randomisiert“ bedeutet, dass freiwillige Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer nach dem Zufallsprinzip unterschiedlichen Gruppen zugeteilt werden. Eine der so entstandenen Gruppen wird als Behandlungsgruppe bezeichnet: Ihre Teilnehmer bekommen die Behandlung, deren Nutzen untersucht werden soll. Die andere dient als Kontroll- oder Vergleichsgruppe: Ihre Teilnehmer bekommen keine oder eine andere Behandlung. In jeder Gruppe werden die Erfahrungen und die gesundheitliche Entwicklung der Studienteilnehmer festgehalten. Die so gewonnenen Daten aus den Gruppen werden dann miteinander verglichen. Auf diese Weise lässt sich feststellen, welche Wirkungen die untersuchte Behandlung tatsächlich hat.

Die erste moderne Studie zu einem Medikament begann 1948 in England: Sie untersuchte ein Mittel gegen Tuberkulose. In ihr wurde erstmals detailliert beschrieben, wie die Forscher vorgegangen waren, um die Prinzipien des fairen Vergleichs zu gewährleisten. Andere große randomisierte kontrollierte Studien folgten. Dazu gehörte eine Untersuchung aus dem Jahr 1954, die zeigte, dass Frühgeborene erblinden können, wenn sie mit zu viel Sauerstoff behandelt werden. Wenige Monate später wurde eine weitere randomisierte Studie veröffentlicht, die die Wirksamkeit der gegen Kinderlähmung (Polio) nachwies.

Die Methode der zufälligen Zuteilung von Teilnehmenden auf Vergleichsgruppen wurde in den 1960er Jahren international akzeptierter Standard für Studien, die die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln und anderen Behandlungen prüfen. Bald danach setzte sich durch, dass solche Studien für eine behördliche Zulassung von Arzneimitteln vorgelegt werden mussten.

Evidenzbasierte Medizin: Begriffsbestimmung

Das moderne Konzept der evidenzbasierten Medizin wurde seit den 1980er Jahren in Veröffentlichungen verschiedener US-amerikanischer und kanadischer Forschender, Ärztinnen und Ärzte skizziert. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass medizinische Entscheidungen in der klinischen Praxis allzu oft von den Gewohnheiten einzelner Chefärzte oder dem Marketing von Pharmafirmen abhingen. Deshalb forderten sie eine Medizin, deren Behandlungsempfehlungen möglichst gut begründet sind und dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Gordon Guyatt von der kanadischen McMaster-Universität verwendete 1990 dafür erstmals den Begriff „“.

Der kanadische Forscher David Sackett veröffentlichte 1996 zusammen mit Kollegen den Artikel „Evidence based medicine: What it is and what it isn’t“. Darin definierten sie als „der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten“. Nach einer neueren Definition spricht man von EbM, wenn bei einer Behandlungsentscheidung das beste verfügbare Wissen aus klinischer Forschung, die Erfahrung des Arztes und die persönlichen Wünsche und Vorstellungen eines Patienten berücksichtigt werden.

Cochrane Collaboration und Cochrane Library

Im Jahr 1993 schlossen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zusammen, um sogenannte systematische Übersichten (Reviews) zu erstellen. Diese Übersichten sind Zusammenfassungen aller wichtigen Einzelstudien zu einer bestimmten medizinischen Frage. Ihre Organisation nannten sie „“, nach dem britischen Epidemiologen Archie Cochrane. Dessen 1972 erschienenes Buch „Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services“ ist ein Grundpfeiler der evidenzbasierten Medizin. Cochranes Veröffentlichungen trugen wesentlich dazu bei, dass randomisierte kontrollierte Studien zunehmend als Standard akzeptiert wurden.

1989 gab der britische Arzt und Wissenschaftler Iain Chalmers das Lehrbuch „Effective care in pregnancy and childbirth“ heraus. Die Erkenntnisse und Empfehlungen dieses Buches stützen sich auf systematische Übersichten und Studienregister. Es gilt als das erste evidenzbasierte Therapiehandbuch und als Vorläufer der Cochrane Library – einer elektronischen Bibliothek, in der seit 1996 systematische Übersichten veröffentlicht werden.

Evidenzbasierte Medizin in der ärztlichen Praxis

Seit den 1990er Jahren stehen Ärztinnen und Ärzte vor der Herausforderung, dass über das Internet eine Flut an aktuellen Forschungsergebnissen verfügbar ist – es ihnen aber an Zeit und teilweise auch der Fachkenntnis fehlt, um diese Studien selbst auszuwerten. Zusammenschlüsse wie die , die verlässliche Übersichten über die Studienlage veröffentlichen, werden deshalb immer wichtiger. Sie erleichtern es Ärztinnen und Ärzten, das vorhandene Wissen einzuordnen und anzuwenden. Hinzu kommen mittlerweile evidenzbasierte Leitlinien, die Empfehlungen für die Behandlung einzelner Erkrankungen aussprechen.

Evidenzbasierte Medizin hat zum einen das Ziel, aussagekräftige Forschung voranzutreiben. Im Mittelpunkt steht dabei aber immer die bestmögliche Versorgung einzelner Patientinnen und Patienten – auf der Grundlage der besten zur Verfügung stehenden Daten. In den vergangenen Jahren rückte zudem mehr in den Blick, wie wichtig es ist, die persönlichen Wertvorstellungen und Prinzipien eines Menschen in die Entscheidung über seine Behandlung einzubeziehen.

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Evans I, Thornton H, Chalmers I, Glasziou P. Wo ist der Beweis? Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin. Bern: Huber; 2013.

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Allgemeine Methoden. Version 5.0. Köln: IQWiG; 2017.

Raspe H. Evidence based medicine: Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit? ZaeFQ 1996; 90(6): 553-562.

Raspe H. Theorie, Geschichte und Ethik der Evidenzbasierten Medizin (EbM). In: Kunz R, Ollenschläger G, Raspe H, Jonitz G, Donner-Banzhoff N (Ed). Lehrbuch evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007.

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IQWiG-Gesundheitsinformationen sollen helfen, Vor- und Nachteile wichtiger Behandlungsmöglichkeiten und Angebote der Gesundheitsversorgung zu verstehen.

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Aktualisiert am 25. März 2020

Nächste geplante Aktualisierung: 2024

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Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

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